Ansprache von Christoph Magirius: "Appell an die Vernunft"

im Namen der Arbeitsgruppe Chemnitzer Friedenstag
bei der Hauptveranstaltung am 5. März 2023 auf dem Neumarkt
(gesprochene Fassung)


Liebe Chemnitzerinnen,
liebe Chemnitzer,

Tod, Verwundung, Elend, Schmerz,
die Schreckensbilder des Krieges überfallen mich, verfolgen mich. Sie verfolgen mich bis in den Schlaf, machen mich krank, nehmen mir den Mut.

Was soll ich machen, was muss ich machen? Was müssen wir tun?
Ich suche den Frieden. Ich suche den Weg. Wo ist er?

Ein Mann, der direkt aus der Hölle des Krieges gekommen ist, sagt es so:

Du. Mann an der Maschine und Mann in der
Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du
sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe
mehr machen - sondern Stahlhelme und
Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!

Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir
morgen befehlen, du sollst die Männer
kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!

Du. Mutter in der Normandie und Mutter in
der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London,
du, am Hoangho und am Mississippi, du,
Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und
Oslo - Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der
Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt
Kinder gebären, Krankenschwestern für
Kriegslazarette und neue Soldaten für neue
Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es
nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!"


Als Kriegskind stehe ich Wolfgang Borchert, der diese Worte [1947] gefunden hat, sehr nahe.
Waffen bringen keinen Frieden.
Sie töten eher, noch bevor sie zum Einsatz kommen: Menschen hungern, verhungern, Waffen fressen Milliarden, die dringend nötig sind für Ernährung, Bildung, Klima und Gesundheit.

Mir wird Angst und Bange, wenn ich höre, dass ein neues Zeitalter ausgerufen ist, das Zeitalter der Aufrüstung und der Bedrohung. Wie sollen unsere Kinder und Enkelkinder in diesem Zeitalter leben?

Ich suche Frieden. Und da gibt es für mich nur eins: Verhandeln und nochmals verhandeln, alle Kräfte bündeln, die zur Verfügung stehen: die europäischen Nationen, Kanzler und Präsidenten, der Papst, Friedensforscher, Nobelpreisträger, die UNO und die Staaten, die bereit sind, zu vermitteln, die Türkei, Brasilien und China.
Mit allen Mitteln verhandeln, mit Fantasie und Energie, nicht nachlassen, nicht aufgeben.

Und Brücken bauen, Brücken bauen, wo wir es können. Nicht die Briefpartnerschaften fallen lassen mit Freunden in der Ukraine und in Russland, nicht die Städtepartnerschaften aufgeben in der Ukraine und in Russland.
Worte finden, die den Frieden suchen.
Schon in unserem Denken und in unserer Sprache den Frieden suchen und die Zukunft, die für uns eine gemeinsame Zukunft sein soll.

Das was ich gesagt habe, diese Stimme darf nicht schweigen!

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Wie ergeht es mir, wenn ich mit dieser Meinung einem Ukrainer oder einer Ukrainerin gegenüberstehe und in die Augen sehe, einer Ukrainerin, die um ihren Mann an der Front bangt, aus den Trümmern kommt und in einem fremden Land zu leben versucht? Was wird da aus meiner Meinung, die ich vertrete?

Da stehe ich, mit dieser Frage. Aber ich stehe nicht lange, denn ich höre schon sehr lautstark die Einwürfe. Das geht schon gar nicht, was Sie da denken, das geht überhaupt nicht.

Wer so brutal angegriffen wird von einem Verbrecher mit seiner Armee, dem kann man nur helfen mit Panzern und Kampfflugzeugen, mit Munition, mit allem Kriegsgerät.
Wer unter die Räuber fällt, dem muss geholfen werden: das ist solidarisch, das ist menschlich, das ist vernünftig, das ist ein Gebot der Nächstenliebe.
Der Zerstörung, Verminung und Auslöschung eines Landes muss man in den Arm fallen.

Mit Waffen alleine, mit dem Gleichgewicht der Waffen lässt sich Verhandlung ansteuern,
Waffenstillstand und Frieden.
Die Ukraine darf nicht verlieren. Die Ukraine muss gewinnen!

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So stehen wir uns jetzt gegenüber mit unseren Meinungen. Der Riss geht durch die Familien, durch die Freundschaften, ich vermute auch, durch die Versammlung auf diesem Platz.

Was sollen wir tun? Was soll werden? Wie wollen wir den Weg des Friedens finden? Wir können ja den Anderen nicht abschaffen. Den gibt es ja. Der steht ja da. Und es hat auch keinen Sinn, ihn für unzurechnungsfähig zu erklären und für dumm, aber –

wir können Halt machen, wir können hören, wir können verstehen und wir können respektieren die Meinung eines Anderen vor mir. Er hat ja die Argumente, er hat ja die Meinung nicht nur aus der Luft, sondern sie sind ja gewachsen in seinem Leben. Und er ist ja nur authentisch, mit seiner Meinung. Anders geht das nicht.

Und weil ich das von mir weiß, wie ernst ich mich nehme und meine Meinung und auch dahinter stehe, kann ich ihn verstehen.

Wenn wir uns so miteinander begegnen, wenn wir uns so achten, gehen wir den ersten Schritt, den ersten möglichen Schritt - den auch wir tun können -, den ersten möglichen Schritt auf dem Weg des Friedens. Es kann sein, wir gehen nebeneinander,
aber auf keinen Fall gegeneinander.

Ich hoffe, dass wir sogar miteinander diesen Weg gehen können. Er ist vernünftig. Und deshalb appellieren wir, als Arbeitsgruppe Chemnitzer Friedenstag, dass wir in Chemnitz vernünftig sind, uns so begegnen und auf den Weg machen.

Der Frieden wird, wo wir ihn machen.